In dieser Episode des Selfdefensebox-Podcasts begrüßen wir einen besonderen Gast: Carsten Staußberg, einen erfahrenen Lehrer für traditionelle chinesische Kampfkünste und Brazilian Jiu-Jitsu (BJJ). Mit einem außergewöhnlichen Lebenslauf, der von intensiver Kampfkunsterfahrung bis hin zu einem Studium chinesischer Philosophie reicht, bietet Carsten eine seltene Kombination aus theoretischem Wissen und praktischer Expertise. Im Laufe des Gesprächs thematisieren die drei nicht nur die Unterschiede zwischen traditionellen und modernen Kampfkünsten, sondern auch die größeren philosophischen und gesellschaftlichen Fragen, die damit verbunden sind.
Das Gespräch begann mit einer Klärung der Begrifflichkeiten rund um chinesische Kampfkünste. Carsten erklärte, dass „Kung-Fu“ im Westen oft als Sammelbegriff verwendet wird, obwohl der Begriff in seiner Ursprungsbedeutung lediglich „über Jahre erworbene Fähigkeiten“ beschreibt. „Wushu“ hingegen wird in China genutzt, um Kampfkünste zu beschreiben, unterscheidet sich jedoch deutlich in der Anwendung. Im Westen wird „Wushu“ oft mit wettkampforientierten, gymnastischen Darbietungen assoziiert, während in China traditionelle Stile wie Taijiquan und Baguazhang unter denselben Begriff fallen.
Ein zentraler Punkt war die Frage, ob traditionelle Kampfkünste effizient in der Selbstverteidigung sind. Carsten betonte, dass diese Frage zwar berechtigt sei, jedoch oft den größeren, ganzheitlichen Ansatz solcher Systeme verkenne. Traditionelle Kampfkünste dienen nicht nur der Selbstverteidigung, sondern auch der Förderung von Gesundheit, Beweglichkeit und mentaler Klarheit. Sie seien „viel mehr als nur Techniken“ – ein Lebensweg, der körperliche, emotionale und philosophische Aspekte umfasst.
Carsten stellte eine seiner Hauptdisziplinen vor: Baguazhang. Diese chinesische Kampfkunst, die im urbanen Kontext von Peking entstand, zeichnet sich durch ihre einzigartigen, kreisförmigen Bewegungsmuster aus. Sie wurde entwickelt, um in komplexen, oft unübersichtlichen Situationen effektive Lösungen zu bieten – ein deutlicher Unterschied zu Stilen wie Xingyiquan, die auf geradlinigen Bewegungen basieren.
Baguazhang legt großen Wert auf Mobilität und Flexibilität. Ziel ist es, den Körper so zu trainieren, dass er sich in jedem Winkel des Raumes frei bewegen kann. Diese Beweglichkeit spiegelt sich in der Kampfstrategie wider: Der Gegner kann von jeder Richtung aus angegriffen werden, wobei die Bewegungen mühlos und geschmeidig wirken. Der Stil ist somit nicht nur ein Mittel zur Selbstverteidigung, sondern auch ein Werkzeug zur Erkundung der eigenen physischen und mentalen Fähigkeiten.
Carstens Zugang zur Kampfkunst ist tief in der Philosophie verwurzelt. Sein Studium der chinesischen Philosophie und Literatur in Taiwan gab ihm die Möglichkeit, die kulturellen und historischen Hintergründe der Kampfkünste zu erforschen. Dabei lernte er nicht nur die Techniken, sondern auch die zugrunde liegenden Prinzipien kennen, die sie zu einem Lebensweg machen.
Er berichtete von seiner Zeit in Taiwan, wo er täglich bis zu fünf Stunden trainierte. Der Fokus lag dabei stark auf Partnerübungen und der praktischen Anwendung. Dies ermöglichte ihm, die Kampfkunst in ihrer vollen Tiefe zu erfassen – ein Kontrast zu vielen westlichen Schulen, in denen oft nur oberflächliche Aspekte vermittelt werden.
Carsten hob hervor, dass traditionelle Kampfkünste oft fälschlicherweise als veraltet angesehen werden. Tatsächlich bieten sie jedoch wertvolle Lektionen für die moderne Welt, insbesondere in Bezug auf Beweglichkeit, Balance und langfristige Gesundheit.
Trotz seiner tiefen Verbundenheit mit traditionellen Stilen erkannte Carsten auch deren Grenzen. Besonders der fehlende Fokus auf Bodenkampf in den chinesischen Kampfkünsten führte ihn zu Brazilian Jiu-Jitsu. Ein prägender Moment war ein Workshop, bei dem er von Anfängern im Grappling überwältigt wurde. Diese Erfahrung weckte seinen Ehrgeiz, die Lücken in seinem körperlichen Repertoire zu schließen.
Heute sieht Carsten BJJ als perfekte Ergänzung zu seinem bisherigen Wissen. Er beschreibt es als eine Kampfkunst, die sich durch ihre Effektivität und Vielseitigkeit auszeichnet und gleichzeitig den ganzheitlichen Ansatz der traditionellen Systeme erweitert. Besonders schätzt er die Wettkampfstruktur des BJJ, die ständige Weiterentwicklung und den Austausch mit anderen Schulen fördert.
Ein weiterer Schwerpunkt des Gesprächs war die Vermarktung von Kampfkünsten. Carsten kritisierte, dass viele Schulen Selbstverteidigung als Hauptfokus bewerben, obwohl dies oft nicht ihr eigentliches Ziel sei. Er plädierte für Ehrlichkeit im Marketing und betonte, dass traditionelle Kampfkünste immense Vorteile bieten – jedoch nicht unbedingt als primäres Mittel zur Selbstverteidigung.
Traditionelle Stile können helfen, eine gesunde Balance zwischen Körper und Geist zu finden, und bieten eine lebenslange Reise des Lernens. Ihr ganzheitlicher Ansatz ist in einer Zeit, die oft auf schnelle Ergebnisse setzt, eine willkommene Alternative. Allerdings sei es schwierig, diese Vorteile effektiv zu kommunizieren, da sie nicht immer sofort offensichtlich sind.
Die Episode endet mit einer tiefen Reflexion über die Rolle der Kampfkünste in der heutigen Zeit. Carsten beschrieb sie als „Chiptuning für das Auto“ – ein Mittel, um bestehende Fähigkeiten zu verfeinern und zu erweitern. Gleichzeitig betonte er, dass Kampfkünste viel mehr sind als nur ein Werkzeug zur Selbstverteidigung. Sie sind eine Philosophie, ein Lebensweg und eine Quelle der Inspiration.
Die Gastgeber Dominik und Jan waren sichtlich beeindruckt von Carstens tiefgehenden Einsichten. Diese Folge des Selfdefensebox-Podcasts ist ein Muss für alle, die sich für die Schnittstelle von Tradition und Moderne in den Kampfkünsten interessieren. Sie zeigt, dass Kampfkunst nicht nur ein Mittel zur Verteidigung ist, sondern auch ein Weg, sich selbst besser kennenzulernen und das Leben in seiner vollen Tiefe zu erforschen.
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